ls das Schweizer Volk am 27. September 1992 an der Urne über die Neue Alpentransversale (NEAT) abstimmte, versprach das Bundesbüchlein: «Nur durch den Bau der NEAT kann der Güterverkehr ohne Zwang auf die Schiene verlagert werden.» Inzwischen ist der neue Lötschberg-Basistunnel der Neat eröffnet (2007). Die Inbetriebnahme des Gotthard- (GBT) und Ceneri-Basistunnels (CBT) stehen Ende 2016 und 2019 bevor - die NEAT-Kernelemente.
Doch mittlerweile weiss man: Durch die Inbetriebnahme neuer Tunnels allein lässt sich der Güterverkehr nicht von der Strasse auf die Schiene bringen. So ganz «ohne Zwang» beziehungsweise Begleitmassnahmen geht es nicht. Es braucht Lenkungsinstrumente wie die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), Subventionen für den kombinierten Verkehr oder auch geeignete (und nicht zu teure) Trassen im Fahrplan. Nur so schafft es die Schweiz bisher, ihren europaweit einzigartig hohen Bahnanteil von 64 Prozent im alpenquerenden Güterverkehr zu halten (Stand 2011).
Zudem muss der Bahngüterverkehr marktgerechte Lösungen anbieten. Diese Notwendigkeit zeigt sich konkret bei den Sattelzügen, deren Anteil im alpenquerenden Strassengüterverkehr sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat. 60 Prozent aller Lastwagen sind mittlerweile Sattelzüge mit einer Eckhöhe von vier Metern. Doch ausgerechnet die «Anhänger» dieser LKW, die Sattelauflieger, lassen sich über die Gotthard-Achse nicht im unbegleiteten kombinierten Verkehr (UKV) transportieren. Sie sind genau 16 Zentimeter zu hoch, um sie auf die Güterzüge verladen zu können. Nur über die Lötschberg-Achse ist dies möglich. Aber dort ist die Trassenzahl beschränkt und bereits ausgelastet.
Die Folge: Im UKV durch die Schweiz beträgt der Anteil der Sattelauflieger gegenwärtig nur 13 Prozent (Lötschberg). Auf der Brennerachse (Österreich/Italien) hingegen, welche im Jahr 2000 auf das 4-Meter-Profil umgerüstet wurde, sind heute 28 Prozent der beförderten Kombi-Sendungen Sattelauflieger.
Aus diesem Grund soll am Gotthard bis 2020 ein durchgehender Schienenkorridor mit 4 Metern Eckhöhe entstehen. Der Bundesrat hat am 22.Mai 2013 die entsprechende Botschaft zu Handen des Parlaments verabschiedet. «Die Kombination der Vorteile des 4-Meter-Korrdors und der Flachbahn auf der Gotthard-Achse erlaubt es, die Produktivität und damit die Verlagerungswirkung der NEAT zu erhöhen», schreibt der Bundesrat.
Konkret bedeutet dies, dass in der Schweiz Profile von 20 Tunnels auf den Zulaufstrecken nördlich und südlich des GBT erweitert werden müssen (Bözberg, Paradiso, Maroggia, u.a.) sowie 150 Profilhindernisse bei Überführungen, Signalanlagen und Perrondächern zu beseitigen sind. Für diesen Profilausbau werden 710 Millionen Franken budgetiert. Dabei entfällt der Löwenanteil mit 348 Millionen Franken auf den 2,5 Kilometer langen Bözbergtunnel (Kanton Aargau). Dort soll ein neuer Doppelspurtunnel erstellt und der bestehende Tunnel zu einem Sicherheitsstollen umgebaut werden. Die Beseitigung der Profilhindernisse fällt mit nur 25 Millionen Franken ins Gewicht.
Der neue 4-Meter-Korridor am Gotthard kann seine Funktion aber nur erfüllen, wenn er bis zu den Verladeterminals in Norditalien führt. Besonders wichtig sind die Terminals von Busto Arsizio und Gallarate (bei Varese), die über den Ast Bellinzona-Giubiasco-Ranzo-Luino entlang dem linken Lago-Maggiore-Ufer erreicht werden. Bis zur Landesgrenze (Ranzo) ist es eine offene eingleisige Strecke. Die Profilanpassungen müssen auf italienischer Seite erfolgen.
Da Italien kein Geld zur Profilerweiterung der Luino-Linie (Ranzo-Gallarate) bereitstellt und den Profilausbau auf dem Ast Chiasso-Mailand priorisiert, will die Schweiz hier in die Bresche springen. Insgesamt 230 Millionen Franken beantragt der Bundesrat als Investitionshilfen für Italien, welche neben der Profilerweiterung auch Massnahmen zur Verlängerung der Zugslängen auf den beiden Achsen Chiasso-Milano und der Luino-Varese einschliessen. Nicht berücksichtigt sind aber weitere nötige Investitionen in Terminals, etwa die Umnutzung des Rangierbahnhofs Milano Smistamento, um die Umschlagskapazitäten südlich der Alpen zu erhöhen.
Noch offen sind die Finanzierungsmodalitäten für die Ausbauten in Italien. Möglich sind Darlehen und A-fonds-perdu- Beiträge. Angesichts der maroden Staatsfinanzen Italiens ist eine Rückzahlung von Investitionshilfen allerdings wenig wahrscheinlich. Obschon die Notwendigkeit des 4-Meter-Korridors unbestritten bleibt, sorgt der Punkt der Investitionshilfen an Italien für reichlich Diskussionen.
Trotz der zu erwartenden Schweizer Finanzhilfe für Italien bleibt der Ausbau des 4-Meter-Korridors auf italienischer Seite ein grosser Unsicherheitsfaktor. Eine grobe Schätzung des italienischen Verkehrsministeriums beziffert den Aufwand zwischen Chiasso und Mailand auf 40 Mio. Euro, jenen auf dem Luino-Ast auf 120 Millionen Euro (Ranzo-Sesto Calende-Gallarate/Novara). Details des italienischen Schienennetz-Betreibers Rete Ferroviaria Italiana (RFI) zu den nötigen Arbeiten an den Strecken liegen nicht vor.
Enrico Boca, stellvertretender Gemeindepräsident von Sesto Calende, hat keine entsprechenden Informationen erhalten. Und nur über wenige Informationen verfügt auch Alessandra Miglio, Leiterin des Ressorts Infrastruktur/Verkehr der Gemeinde Luino. Sie spricht von einer möglichen Sperrung der Luino-Linie von drei Jahren, um die Profilerweiterung an den Tunnels durchzuführen. Eine derart lange Sperrung wäre wiederum ein grosses Problem für den Schweizer Kombioperateur Hupac, der die Terminals von Busto Arsizio und Gallarate via Luino anfährt.
Dazu kommt: Trotz des immensen finanziellen Aufwands für den 4-Meter-Korridor von fast einer Milliarden Franken wird es nicht möglich sein, allein mit diesem Instrument die Verlagerungsziele des Bundes (650'000 LKW-Transitfahren pro Jahr ) zu erreichen. Die bundesrätliche Botschaft spricht in dieser Hinsicht Klartext. Zwar lassen sich mit dem 4-Meter-Korridor voraussichtlich bis zu 160'000 Sendungen im Jahr zusätzlich von der Strasse auf der Schiene bringen, doch wird dieser Verlagerungseffekt durch das allgemeine Wachstum an Gütertransporten kompensiert. Die Zahl der LKW im alpenquerenden Verkehr lässt sich kaum reduzieren. «Bei einer durchgehenden Erweiterung der Gotthard-Achse auf einen 4-Meter-Korridor werden es noch ca. 1,35 – 1,4 Millionen schwere Güterfahrzeuge in den Jahren 2020 und 2030 sein», heisst es in der Botschaft. Die positive Nachricht liegt somit in der Umkehrung dieser Aussage: Ohne Vier-Meter-Korridor würden noch mehr Lastwagen durch die Schweizer Alpen rollen.
Die Artikelserie «Der Güterverkehr auf dem Weg in die Zukunft» beleuchtet in vier Teilen unterschiedliche Aspekte des heutigen Güterverkehrs auf Schiene, Strasse und Wasser. Die Serie ist eine Zusammenarbeit der LITRA und der BAHNJOURNALISTEN SCHWEIZ.